Die ESA erforscht von Darmstadt aus Planeten und die Klimakrise
„Europas Tor zum Weltraum“ befindet sich in Darmstadt: Dort hat das Satellitenkontrollzentrum ESOC der Europäischen Weltraumorganisation ESA viele Missionen gleichzeitig rund um die Uhr im Blick. Die von dort gesteuerten Satelliten erkunden Planeten wie Mars und Merkur, sie erforschen die Klimakrise und können sogar auf Kometen landen. Nach zweijähriger Pandemie-bedingter Pause gibt es seit Frühsommer 2022 wieder spannende Führungen über das Gelände.
„Wir verlassen Deutschland und betreten nun europäischen Boden“, sagt Thomas Pöhlmann. Der Mitarbeiter der Darmstadt Marketing GmbH ist an diesem Tag für die ESA-Führung zuständig und hat die Teilnehmenden durch die Sicherheitskontrollen gelotst. Zunächst gibt es im Garten ein 2:1-Modell des Weltraumteleskops XMM-Newton zu bewundern: Er kreist seit Ende 1999 im Orbit und ist damit der mit Abstand älteste Satellit, der von Darmstadt aus betrieben wird. Seine Hauptaufgabe besteht darin, die energiereichsten Prozesse im Universum zu erforschen. „Dazu gehören beispielsweise neu entstehende oder erlöschende Sterne“, erläutert Pöhlmann. Diese Beobachtungen im Röntgen-Bereich, die mit Hilfe von ineinander verschachtelten Metallspiegeln gelingen, sind sehr erfolgreich und ein Alleinstellungsmerkmal der ESA. „Das K.O.-Kriterium für XMM-Newton ist sein Treibstoff-Vorrat“, sagt Pöhlmann. Bis Jahresende 2022 umkreist er auf jeden Fall noch die Erde.
Komplexes Rendezvous mit einem Kometen
Auch die Mission Rosetta lässt sich anhand eines Modells im Außenbereich nachvollziehen. „Ihr Ziel war es, auf einem Kometen zu landen, der alle zehn Jahre durch unser Sonnensystem fliegt“, berichtet der Fachmann. Die Sonde flog ihrerseits unfassbare zehn Jahre lang, von 2004 bis 2014, auf komplex berechneten Bahnen durchs All, bis sie auf der Jupiterlaufbahn „ihren“ Kometen traf. „Er war 4 x 4 Kilometer groß und damit vergleichsweise ein Sandkorn in der Wüste.“ Das akribisch geplante Rendezvous von Rosetta mit dem Kometen Tschurjumow-Gerassimenko barg Tücken: „Nach der Landung in 400 Millionen Kilometern Entfernung von der Erde ragte eines der drei Beine des Landers in die Luft“, erinnert sich Pöhlmann. Trotzdem lieferte Rosetta zahlreiche Messungen und Analysen des Kometen, wie sie zuvor nicht möglich waren. Die Weltraumforschung hatte einmal mehr von Darmstadt aus Neuland betreten, und das weltweite Ansehen der ESA wuchs weiter.
Wie die Europäische Raumfahrt nach Darmstadt kam
Um solche Erfolge zu erzielen, ist ein komplexes Team herausragender Wissenschaftler*innen und Ingenieur*innen erforderlich. Doch wie kam die Europäische Raumfahrt nach Südhessen? Eine Grundvoraussetzung dafür war die notwendige Rechenkapazität: Im Deutschen Rechenzentrum an der Darmstädter Rheinstraße stand Anfang der 1960er-Jahre einer der wenigen Großrechner der Bundesrepublik. Zudem waren die Forschungen des von Alwin Walther gegründeten Instituts für Praktische Mathematik (IPM) an der TH Darmstadt für die Luft- und Raumfahrt von großer Bedeutung. 1967 eröffnete der damalige Bundesforschungsminister Gerhard Stoltenberg das Europäische Raumflugkontrollzentrum (ESOC) in Darmstadt. Aus der 1962 gegründeten Vorgänger-Organisation European Space Research Organisation (ESRO) ging dann 1975 die European Space Agency ESA hervor.
In den Anfangsjahren waren ca. 70 Menschen im ESOC beschäftigt, heute sind es rund 900 – davon etwa 300 europäische Beamte und 600 Vertragspartner*innen. „Hier werden ausschließlich Satelliten-Missionen zu friedlichen Zwecken geflogen“, erklärt Pöhlmann. Astronautische Missionen werden von anderen Zentren betreut – hier es geht um die wissenschaftlichen Daten zu hochkomplexen Fragen. Wie kam das Leben auf die Erde? Und gab es jemals Leben auf dem Mars? Seit Ende 2003 erforscht eine ESA-Mission den roten Planeten, erkundet seine Oberfläche, Atmosphäre und Beschaffenheit und sendet immer wieder spektakuläre Bilder. Andere Fragen beschäftigen sich mit dem Klima auf der Erde: Warum erwärmen sich die Ozeane? Wie stark ist die Luft verschmutzt, und in welchem Ausmaß breiten sich die Wüsten aus? „Die Umweltsatelliten haben die Forschung revolutioniert – das begann schon mit den Erkenntnissen zum Ozonloch“, berichtet Thomas Pöhlmann.
Bis zu 80-köpfige Expert*innenteams berechnen den genauen Kurs der Satelliten. Ins All gelangen viele durch die Trägerrakete Ariane 5 – auch davon gibt es in Darmstadt ein Modell zu sehen –, die vom Europäischen Weltraumbahnhof in Kourou/Französisch-Guayana startet. In den Kontrollräumen des ESOC, die bei der Führung durch Fensterscheiben bei laufendem Betrieb besichtigt werden können, überwachen die Fachleute rund um die Uhr die Satelliten und ihre Bahnen: „Lage und Flugdynamik, Messgeräte, Kommunikation und Software – hier sind alle Kompetenzen in einem Raum vereint“, weiß Pöhlmann. Jede Mission ist eine Reise ins Ungewisse. Um möglichst viele Szenarien durchzuspielen, gibt es im Vorfeld gezielte Kampagnen, die Fehler an den Satelliten simulieren: „Dann sind die Teams gut vorbereitet, wenn es real wird.“
Daten aufbereiten und Weltraummüll im Auge behalten
Je nach Fragestellung und Ausstattung muten die Satelliten sehr unterschiedlich an: Manche sehen aus wie Staubsauger, andere erinnern an Hummeln oder U-Boote. Ihre Modelle hängen im Erdbeobachtungs-Kontrollraum, in dem jeder Arbeitsplatz gleich vier Monitore hat. „Manchmal werden die Forschungsfragen auch im Flug noch angepasst“, sagt Pöhlmann. „Sie müssen nur spannend genug sein.“ Um dann die entsprechenden Signale der Satelliten zu empfangen, braucht es wiederum eine ausgefeilte Technik. Dafür nutzt die ESA unter anderem Radioantennen weltweit. Die Aufbereitung der Daten verursacht einen enormen Aufwand, an denen verschiedene wissenschaftliche Institute und Universitäten beteiligt sind. Komplex ist auch das Thema Weltraummüll, um das sich eine eigene ESA-Abteilung kümmert. „Es ist wirklich eine Menge von unsteuerbaren Teilen da oben unterwegs, und dieses Team passt auf, dass Satelliten im Orbit nichts abbekommen und uns nichts auf den Kopf fällt.“ Aktuelle Vorhaben verfolgen stets das Ziel, so wenig neuen Schrott wie möglich zu erzeugen.
Zu den jüngsten Missionen zählt der 2018 gestartete Flug zum Merkur – einem „seltsamen“ Planeten, dessen Südhalbkugel noch weitestgehend unbekannt ist. Die Ankunft der europäisch-japanischen Mission BepiColombo ist für 2025 geplant. Messungen sollen dann ein 3D-Oberflächenmodell des Merkur ermöglichen, um die Entstehung von Planeten insgesamt besser zu verstehen. Andere Fragestellungen beschäftigen sich damit, wie sich Verkehrsströme vom All aus besser steuern oder ob sich auf fernen Himmelskörpern auch Bodenschätze abbauen lassen. „Daten sind das Erdöl des neuen Jahrtausends“, betont ESA-Experte Nicolas Bobrinsky. Laut der SPACE 4.0-Initiative der ESA soll Raumfahrt dabei nicht Selbstzweck sein, sondern mehr denn je bei der Lösung globaler Herausforderungen helfen.
25 Jahre Wissenschaftsstadt: Veranstaltungen und Führungen
Darmstadt (nu) – Die ESA trug mit dazu bei, dass Darmstadt im August 1997 der Ehrentitel „Wissenschaftsstadt“ verliehen wurde. Heute beherbergt die Stadt mehr als 30 wissenschaftliche Einrichtungen, darunter vier Hochschulen, und gut 50.000 Studierende. Zum 25-jährigen Bestehen des Titels gibt es ein umfangreiches Rahmenprogramm, das auch Veranstaltungen rund um die ESA und ihre Schwesterorganisation EUMETSAT (meteorologische Satelliten) umfasst. Ansonsten sind ESA-Führungen seit 1. August 2022 montags um 10, 12 und 14 Uhr oder freitags um 13, 15 und 17 Uhr möglich. Anmeldungen und ein 3G-Nachweis sind erforderlich. Für Gruppen (maximal 15 Personen, Mindestalter 10 Jahre) besteht die Möglichkeit, individuelle Termine zu vereinbaren. Alle Infos und den Link zur Buchung finden sich unter www.darmstadt-tourismus.de/esa, weitere Infos unter www.esa.de.
(Artikel für die Offenbach-Post, 08/2022)